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Wenn die Schönheit stirbt, oder: Design, eine Tragödie

Lesedauer: 7 Minuten

Während die Welt gewachsen ist und das Analoge sich zum Digitalen gewandelt hat, haben wir uns verlaufen. Und die Schönheit ist dabei verlorengegangen, meint Gastautorin Jasmin Deniz Karatas.

„Was ist Schönheit?“

BOOM, da war sie die Frage, in einem leeren Raum hineingesagt, alle anderen Gedanken auslöschend, schwarz auf einer Bühne, vom Nichts umgeben. Ich saß an einem Tisch auf einem Berg in der Schweiz und Svetlana Velikanova, die Gründerin von HARBOUR.SPACE*, in Frankreich – wir beide mit dem Handy am Ohr. Mein Gehirn suchte in aller Hast alle Schubladen durch, um in Schnellzeit eine für mich passende Antwort zu finden.

„Form folgt Funktion“, „form follows function“ im Englischen, schoss es mir durch den Kopf. Ein leicht bitterer Geschmack machte sich breit, denn ohne Hintergrundwissen sind es aneinander gereihte Worte, ein dahingesagter Satz, bei dem man zu viel falsch verstehen kann, so viel falsch auslegen kann.

„Form folgt Funktion“ – das Credo des Weimarer Bauhaus und später der Hochschule für Gestaltung Ulm, und deren „Kindern“. Eine ganze Designer-Generation ist diesem einen Satz verfallen und doch scheinen wir seine Essenz und Wahrheit vergessen zu haben. Max Bill formulierte 1948 erstmals am Schweizerischen Werkbundtag 1948: „Schönheit aus Funktion und als Funktion“. Und er war wie Le Corbusier der Meinung, dass Schönheit selbst eine Funktion sei.

Schönheit – langsam ausgesprochen, zerläuft das Wort fast auf der Zunge und bleibt dann wie klebriger Zucker zwischen den Zähnen hängen. Schönheit? Schönheit! Liegt sie nicht im Auge des Betrachters? Und doch scheint uns dieses Wort, diese philosophische Gleichung in ihren Bann zu ziehen. Wieso sonst sollten sich Genies, wie Plato Aristoteles, DaVinci, Einstein sonst mit der Schönheit befassen? Versuchen, sie einzufangen, sie zu einer Gleichung zusammenzufassen? Und doch hat noch niemand die universelle Formel gefunden…

Dieter Rams, der unsere Welt nachhaltig geprägt hat und bis heute prägt, kombinierte wie kein anderer eine Designidee zu einem Gesamtkonzept. Die Apple-Produkte in unseren Hosentaschen und auf unseren Tischen sind der „lebende“ Beweis. Seine 10 Regeln für gutes Design finden bis heute Anwendung. Man denke nur an Apple.

Rams’ dritte Regel lautet:

Gutes Design ist ästhetisch

Die ästhetische Qualität eines Produktes ist integraler Aspekt seiner Brauchbarkeit. Denn Geräte, die man täglich benutzt, prägen das persönliche Umfeld und beeinflussen das Wohlbefinden. Schön sein kann aber nur, was gut gemacht ist. — Dieter Rams

Aber was ist nun eigentlich Schönheit?

Einen ganz anderen Blickwinkel bekommen wir auf die Ästhetik, wenn wir uns Goethe und Schiller zuwenden, die Ästhetik mit dem Spiel in Verbindung bringen. Sie sehen im Spiel eine ganz spezielle und freie Form der Ästhetik des Menschseins.

Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch wo er spielt. — Friedrich Schiller

Spiel gibt uns die Möglichkeit, in seinem Rahmen die Schönheit, die Ästhetik einer ganz anderen Form zu genießen, und das ist die Form der Emotionen und des Verhaltens, welche auf Neugier und Wissensdurst fußen. Im Spiel sind wir nicht alleine, wir sind in einer „Communitas“, fiktiv oder reell – ein Spiel ist sozial, gemeinsam, sinnstiftend, basierend auf unseren Werten.

Schönheit ist Emotion, Schönheit ist „Zusammenwirken“, Schönheit ist Spiel!

Und jedes Spiel hat ein Ende, Vergänglichkeit erinnert uns an die Zerbrechlichkeit des Seins und das macht es uns noch kostbarer.

Design, eine Tragödie

Während die Welt um uns – und wir in ihr – erwachsen wurden, das Analoge sich zum Digitalen gewandelt hat, haben wir uns auf dem Weg verlaufen. Uns ist die Schönheit im Digitalen abhanden gekommen.

Designer schaffen Neues, immer schneller für den Konsum. Sie machen – sie kreieren nicht! Ein jeder versucht die nächste größere und bessere ERFAHRUNG zu schaffen — neudeutsch: EXPERIENCE. Man nennt sich „Experience Designer“. Die Erfahrung wird wie die Idee zum Gut, zum Preis, den wir mit Daten und Geld bezahlen. Die digitale Manege ist schon lange zum Zirkus der Pixel-Athleten geworden – ohne nachzufragen gestalten wir ein hedonistisches “Sodom und Gomorrah”, eine fiktive Glitzerwelt. Und da sage einmal jemand, Spiel würde uns schlecht beeinflussen! Ich halte dagegen und sage nur: TINDER. Niemals zuvor war die Realität so kaputt wie heute – reality is broken! Und wie wir sie retten, darauf hat Jane McGonigal eine Antwort.

In Zeiten von Rapid Prototyping, leaner Produktentwicklung und agiler Umsetzungszyklen wird es umso klarer, dass wir etwas Essentielles zurücklassen.

Technologie hilft uns mehr denn je, Neues zu schaffen, und dies ist auch der Grund, warum wir noch sensibler mit der digitalen Welt umgehen müssen. Wir entwickeln digitale Produkte so schnell und schmeißen diese auf den Markt, dass wir vergessen, dass wir Menschen mit Emotionen sind. Wir haben Angst, Liebe, Vorurteile, Neugier und so vieles mehr in uns. Und alles, was uns als Designern einfällt, ist, das nächste Interface zu basteln, die nächste Website, die nächste App – ohne uns zu fragen, was diese bringen soll. Hauptsache, der Kunde bezahlt und wir feiern uns dann selbst, wenn wir dem Kunden unsere Idee als seine verkaufen konnten.

Im digitalen Zeitalter gestalten wir Plattformen, die uns nachweislich aggressiver machen oder aggressiver miteinander umgehen lassen. Wir sind anonym, wir können uns eine Scheinwelt aufbauen, wir fühlen uns stärker, weil wir gefühlt „mehr“ Menschen sind, und somit werden wir radikaler in unseren Ansichten, manche sogar fanatischer.

Wir nehmen das „Gegenüber“ aus der Gleichung – aus den Augen, aus dem Sinn. Empathie, Gefühl, Nähe gehen verloren. Im Digitalen Schönheit zu gestalten, ist wohl genauso schwer wie in der analogen Welt, wenn nicht gar noch schwieriger, denn es gibt Einschränkungen. Im Analogen haben wir alle Sinne, im Digitalen sind wir einiger Sinne beraubt – und statt dies holistisch zu gestalten, lassen wir den Rest, der stört, einfach aus der Gestaltung raus, weil es eben technisch auch nicht möglich ist.

Sagmeister & Walsh gehen soweit zu sagen, dass wir verloren als Designer, Architekten, Gestalter Schönheit durch reine Funktionalität abgelöst haben und dies sich in schlechten, gar aggressiven Verhalten widerspiegelt.

Ein Lächeln, ein Interaktion, ein schnell dahin gesagter Hate Post — solange wir den anderen nicht sehen, ist es einfach, es auszublenden und dann wird es ganz schnell sehr hässlich. Ästhetik heißt nicht, den Goldenen Schnitt auf dem Screen darzustellen, sondern sich zu überlegen: Was tut es mit dem anderen? Welche Gefühle wird der andere empfinden? Wie kann ich es „missbrauchen“? Wir gestalten den überladenen Happy Path des verblödeten Konsums.

„Die Zeiten des gedankenlosen Designs, für gedankenlosen Konsum sind vorbei.“ — Dieter Rams

Schön einfach ist einfach schön

Interessant ist eine Gegenbewegung aus Japan, Kawaii genannt, was ins Deutsche ungefähr als „süß“ oder„goldig“ übersetzt werden kann. Das Kindlich-Niedliche, es reduziert Stress und erhöht Wohlbefinden in einer sonst tristen Welt. Es kommt wohl auf die Betrachtungsweise an: Was ist schön? Und es ist nicht der Button, den wir drücken und der blinkt, um uns dazu zu bewegen, ihm alle Aufmerksamkeit zu schenken.

Gutes Design ist mehr, als nur etwas auf einen Screen, auf eine Seite zu kleistern. Das Wort „Design“ ist selbst zum Konsumgut geworden, mit einem fetten Sale-Sticker.

Design ist eine Kunst, und Einfachheit die Kür. Alle Farben zu mischen, ergibt ein hässliches Braun – und genauso ist es auch mit Design. Schönheit entsteht durch Ästhetik, durch uns als Menschen unserer Emotionen und durch den Platz, diese Emotionen in Fülle zu spüren und zu genießen. Die Schlichtheit des Seins.

Die reduzierte Kunst der Natur lässt sich auf ein paar Nenner bringen, die immer wieder auftauchen, wie z.B. der goldene Schnitt, die Fibonacci-Folge, und so vieles mehr. Es liegt also an uns, die Schönheit zu finden und sie für andere zugänglich zu machen!

Design ist KEIN Konsumgut – es ist alles, was wir sind. Schöpfung und die reine Schöpfung ist das Wunderschönste der Welt!

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*HARBOUR.SPACE ist eine neuartige Form der Universität und Lehre, die anders als andere Universitäten die Interdisziplinarität wirklich lebt und ihr Konzept ist wirklich einzigartig. Es lohnt sich, diese Universität im Auge zu behalten.


GASTBEITRAG VON

Jasmin Deniz Karatas
Strategic Designer
Myndset

https://www.linkedin.com/in/jasminkaratas/

https://twitter.com/j_karatas